Liebe Leser, liebe Inskribienten, liebe Musiker, liebe Künstler, liebe Welt, liebe Gemeinschaft !
Es war eine längere Pause, die ich aus verschiedenen Gründen angehen musste. Die aktuelle Lage verschlägt mir nach wie vor oftmals die Sprache und das Verhalten von Menschen, denen man von ihrer Ausbildung her durchaus Bildung zugestanden hätte, enttäuschte mich zusehends.
Nachdem ich nun über 2 Jahre emeritiert bin, habe ich mich vor einigen Monaten entschlossen, all das was ich in den über 32 Jahren meiner Beschäftigung mit denselben, über die Klänge und die Musik der Steine zusammen getragen habe in einer umfassenden Arbeit zusammen zu fügen. Es wird eine Doktorarbeit werden und ich werde für mich den akademischen Prinzipien folgen, um diese Ansprüche niveauvoll zu erfüllen. Das Paradigma des akademischen Vorgehens hat eine lange Tradition, und ich halte es für sehr sinnvoll sich an diese Regeln zu halten.
Zwei bedeutende Ereignisse im 13. Jahrhundert
Im Laufe des 13. Jahrhunderts, der, musikalisch betrachtet zweiten großen Musikepoche, der Zeit der unbegleiteten Mehrstimmigkeit, beginnend mit der Notre-Dame-Epoche in Paris, kam es im Abendland zu zwei bedeutenden Ereignissen, zur Gründung der Universität und zum Erscheinen des Werkes des griechischen Philosophen Aristoteles, dessen Werke im Arabischen übersetzt vorlagen und zum Studium des griechisch-lateinischen musikalischen Erbes führten.
Hier die Geschichte des Mittelalter zu öffnen würde wahrscheinlich zu weit führen, sich mit Teilen daraus zu beschäftigen ist aber durchaus sinnvoll. Wer, frage ich mich, beschäftigt sich heute schon mit Leoninus und Perotinus, der Frühform der Motette, der Ars Nova, einer wirklich wunderbaren Musik, ausgehend von der Kathedrale Notre-Dame in Paris.
Eines der wichtigsten Beziehungssysteme – im Mittelalter wie heute
Sehr sinnvoll wäre für viele heutige Wissenschaftler die Kenntnis der 7 freien Künste, die im Quadrivium und Trivium gelehrt wurde. Es war und, wie ich denke, ist immer noch eines der wichtigsten Beziehungssysteme, die es gibt und im Mittelalter Pflicht für jeden Gelehrten. Das Quadrivium, welches auf der Mathematik basiert umfasst die Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, das Trivium die sprachlichen Disziplinen Grammatik, Logik und Rhetorik.
Als ich in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Musik und Germanistik studierte, hörten wir zum ersten Mal von dieser mittelalterlichen Musik. Die Generation vor uns hatte, als Konsequenz aus dem Bruch durch den zweiten Weltkrieg und Vorgängen wie die Entartete Kunst, die Vertreibung von jüdischen Künstlern den Beginn der Wiederaufarbeitung dieser Vergangenheit den Beginn der Musik eher bei Bach angesetzt, als ihn in die Vergangenheit zu legen.
Das Mittelalter – der Boden auf dem wir gehen und denken können
Seit längerem beschäftige ich mich fast täglich mit dem was man das Mittelalter nennt, grob gerechnet die 1000 Jahre zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Renaissance. Sie werden sich fragen warum ich mich damit beschäftige nach 48 Jahren Arbeit, der Ausbildung von Hunderten oder Tausenden von Studierenden. Ich beschäftige mich unter anderem damit, weil der Boden, auf dem unsere Kultur wuchs und das hervorbrachte was wir sind, hier als ein gutes Beispiel dienen mag, auf diesem Boden wieder gehen und denken zu können.
Eine Nation der Dichter, Denker, Künstler und Musiker
Man möge über die Jetzt-Zeit, über alles was sich aktuell ereignet nach- und ausdenken was man möchte, in meinem Bewusstsein, meiner Existenz, meinem Bewusstsein sind wir, und ich denke mich hier im deutschsprachigen Raum, eine Nation der Dichter, der Denker, der Schriftsteller, der Maler, der Bildenden Künstler, der Musiker. Darauf bin ich stolz, dass ich einen Hölderlin, einen Goethe, einen Hegel kennen darf, einen Einstein verstehen lerne, einem Max Frisch zuhören kann, einen Günter Grass erleben und die Werke lesen durfte, dass es einen Caspar David Friedrich, einen Dürer, einen Markus Lüpertz gab und gibt, einen Gerhard Richter, einen Ludwig van Beethoven, einen Wolfgang Amadeus Mozart, einen Richard Wagner, Johann Sebastian Bach, die Fantastischen Vier, den Poeten Reinhard Mai. Die Liste ist ja nur ein kleiner Ausschnitt von unendlich vielen Künstlern, die diese Zeit geprägt hat und und ob man nun hier vom deutschsprachigen Raum oder von der deutschen Nation spricht ist mir auch nicht wichtig.
Was für Werke wurden hier geschaffen, haben ungeheure Erlebnisse hervorgerufen und tun das bis heute.
Ein Hölderlingedicht mindestens (wenn nicht mehrere), dazu die sehr lesenswerte Biographie von Peter Härtling, dessen eigene Werke, besonders seine Lyrik unendlich wichtig ist, Goethes Faust ist Pflicht, diese seine Sprache ein absolutes Muss, um sinnvoll denken zu können. Der Song „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ von Reinhard Mey muss gehört und gesungen worden sein, die Blechtrommel von Günter Grass gesehen und gelesen werden. Ist das gemalte Rügen von Casper Davi Friedrich besser als das Original? Dies ist am Besten in einer Museums- und Kulturreise zu erfahren. Man muss in der Leipziger Bachschen Thomaskirche die h-moll Messe, die Matthäuspassion, das Weihnachtsoratorium gehört und erlebt haben, die Relativitätstheorie zumindest mal studiert haben, oder zumindest den Versuch unternommen haben.
All das tut dem Kopfe genauso gut, wie mein tägliches mehrstündiges Klavierspielen, mein Üben mit Bach, Mozart, Beethoven, Debussy, Albeniz aktuell. Hier kommt die Musica Humana des Pythagoras in die harmonische Balance.
In einem Leben kommt vieles zusammen
So könnte ich weitere Seiten füllen, Reisen planen, von den Büchern erzählen, die mein Leben geprägt und die Phantasie erweitert haben, von der unendlichen Vielfalt der Musik, die seit frühester Kindheit mein Leben war und ist erzählen oder von den Mitkünstlern, die jeder von uns kennt, schätzt und liebt berichten. In einem Leben kommt unendlich viel zusammen, setzt sich, bildet die Basis der Existenz, die Möglichkeit des Fühlens, des Denkens.
Im Jahr 2016 begann ich, diesen Newsletter zu schreiben und dieser hier ist der 96. In den letzten Monaten hat es mir, aus unterschiedlichen Gründen immer öfters die Sprache verschlagen, konnte ich nicht mehr frei schreiben, nicht mehr dem Trivium folgen, nicht mehr logisch denken, legte ich mir immer öfters, wie Jack Nicholson in seinem wunderbaren Film dies demonstriert die „Wut-Probe“ auf. Bei ihm war es der Song „I feel pretty“ – bei mir war und ist es inzwischen wieder der berühmte indische OM-Ton, anstatt dem Handkeschen Beschimpfungsausbruch. Kennen Sie seine Publikumsbeschimpfung?
Inzwischen gelingt es mir wieder besser, mit all dem zurecht zu kommen, auch darum weil ich damit beschäftigt bin, mich aus der täglichen Informationsflut zu verabschieden und mich zumindest mit einigen Bereichen des Lebens nicht mehr zu beschäftigen.
89 Newsletter und der “Geheime Code”
Ich begann im Herbst 2021 mich zurückzuziehen und bat meinen Freund und Graphiker Klaus Fleckenstein, die ersten 89 Newsletter zu einem Buch zusammen zu fassen. Warum 89 werden Sie fragen und nicht 100?
Nun, die Zahl 89 ist in der Fibonaci-Zahlenreihe, eine Bestandteil der Arithmetik. Dieselbe ist eine Addition-und Proportionsreihe, populärwissenschaftlich nennt man sie auch den „Geheimen Code“. Sie beginnt mit der 1, die 1 wird der ersten angehängt und von da ab werden immer die beiden benachbarten Zahlen addiert und ergeben dann die nächste.
Also: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 ….. Soweit, denke ich, ist dies leicht zu verstehen.
Das weitere, das Proportionsreihen-Thema ist schon etwas diffiziler, aber jeder von Ihnen wird schon einmal vom Goldenen Schnitt gehört haben, der in dieser Fibonaci-Reihe enthalten ist. Diesen wende ich zum Beispiel beim Komponieren an. Nehmen wir an, ich plane ein Stück zu schreiben, dann beginne ich, mir eine Vorstellung von der Länge desselben zu machen. Ich denke über das Thema, die Kernzelle des Stückes nach, die Instrumentation usw.
Nehmen wir an, ich komme bei meinen Planungen auf die Zahl von 89 Takten. So lang soll mein Stück werden. Dazu plane ich in der Mitte des Stücks einen Höhepunkt. Dort spielen die meisten Instrumente, ist es an einer Stelle am lautesten, nachdem ich entschieden habe, sehr leise zu beginnen und sehr leise wieder zu enden.
Bei der Planung des Höhepunkts kommt nun die Fibonaci-Reihe ins Spiel. Plane ich den Mittel- und Höhepunkt genau in der Mitte des Stücks, als bei 44,5 Takten, dann, so die bekannten Forschungen, erleben die Hörer den zweiten Teil des Stückes als zu lang und sie werden, im schlechtesten Fall einschlafen. Der Höhepunkt muss im Takt 55 liegen, so dass der erste Teil 55 Takte und der zweite Teil 34 Takte umfasst.
Soweit eine kurze Darstellung des Phänomens.
Dasselbe kommt natürlich nicht nur in der Musik vor, es ist in allen Teilen des Lebens, der Natur, der Architektur usw. vorhanden. Eine Beschäftigung lohnt sich, das kann ich aus eigener Erfahrung mitteilen.
(M)ein Buch aus 89 Newslettern
Knüpfe ich an oben an, so ist das Buch fertig und ich habe 5 Exemplare zum Drucken in Auftrag gegeben. Es ist ein riesiges Buch von 360 Seiten geworden und ich freue mich sehr, es diese Woche noch in den Händen halten zu können.
Ich werde im nächsten Newsletter Einblicke in das ganze Projekt geben und auch mitteilen wie man zu diesem Buch kommen kann.
Bis dahin alles Gute und “bleibt gsund”.
Herzliche Grüße der Klaus Fessmann