Liebe Leser,
seit inzwischen über zwei Jahren (August 2016) erzähle ich Ihnen, berichte Ihnen, sinniere ich und tobe mich aus über Musik in dieser Welt, oftmals in dieser meinen Welt.
Dabei versuche ich zu beweisen, was Nietzsche so beschrieb: “Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum”.
Was immer Sie über mich denken werden – ich liebe zwar den akademischen Elfenbeinturm, aber ich habe auch oft genug mehr mit dem Alltag, der sogenannten Realität, zu tun als mir lieb ist.
Vor inzwischen schon zehn Jahren verhandelte ich mit einem renommierten Verlag über ein neues Buch und wurde gebeten, eine Art Leitfaden aus musikalischer Sicht für Eltern zu schreiben, deren Kinder in die Pubertät kommen und bei denen es dann im ganzen Haus plötzlich ganz anders klingt.
So entstand ein Skript, welches zwar gut ankam, aber aufgrund struktureller Veränderungen im Verlang erst einmal auf die “Halde” kam.
Denn weghören geht nicht
Trotzdem schrieb ich weiter und so entstand „Denn weghören geht nicht“.
Ein Werk, das sich mit der Realität des oben Geschilderten befasst.
Es bereitete mir mit jeder Seite immer mehr Freude, dies zu schreiben und ich möchte Ihnen, meinen Lesern, einige Teile davon erzählen.
Ich lasse die sechs Seiten Vorspann weg – vieles davon werden Sie wahrscheinlich kennen, denn es entspricht dem was ich so denke.
Ich gehe direkt in die Schilderung der Familie Clement, den Hauptpersonen der Geschichte, hinein:
Es geht in der Geschichte um die Situation und Geschichte der Familie Clement – die mit dem ehemaligen Minister nichts zu tun hat – in deren Leben und Sein alles, das mit Klang zu tun hat, eine bedeutende, wahrscheinlich gar nicht geplante Rolle spielt.
Auf der einen Seite ist es eine in vielerlei Hinsicht sehr interessante Familie: Sie besteht aus einer Reihe von großen Individualisten, Typen würden wir heute sagen, teilweise sind es richtige Käuze.
Auf der anderen Seite sind es Menschen, die bei jedem Leser um die Ecke wohnen können, die bei Ihnen in Ihrer Familie genauso vorkommen können wie in der hier geschilderten.
Manche dieser Damen und Herren erkennen Sie vielleicht wieder, viele der Probleme, die auftauchen, werden Ihnen bekannt, vieles wird Ihnen aber auch neu sein.
Vielleicht sagen Sie, “Donnerwetter, Gott sei Dank passiert mir das nicht”.
Vielleicht erfahren Sie auch, wie man mit Dingen umgehen kann.
Vielleicht hören Sie sich nach der Lektüre auch andere Musik an.
Vielleicht achten Sie morgens beim Laufen mehr auf das, was Sie hören könnten.
Wer weiß, was alles geschehen kann, denn wie gesagt … wahrscheinlich geht weghören nicht.
Vielleicht geht hin-hören oder zu-hören.
Das Mehrgenerationen-Haus
„Wir wohnen in einer mehrstöckigen, ganz geräumigen Doppelhaushälfte und vereinigen fast alles, was eine bürgerliche Familie im deutschsprachigen Raum ausmacht oder auch ausmachen kann.
Das Mehrgenerationenhaus hatten wir schon bevor eine Bausparkasse zu diesem Thema Konzepte vorgelegt hatte.
In der steuerbegünstigten Einliegerwohnung schlägt das Herz in Form eines aus Afrika emigrierten Asylbewerbers.
Julia Andrea, unsere älteste Tochter hat einen Sohn. Dessen Vater studiert noch und da sie nach dem Referendariat ihre erste Stelle angetreten hat, ist ihr Sohn Kasimir in erster Linie bei uns und wird von wechselnden Stellvertreter-Müttern, – Onkel, – Großmüttern und – Urgroßmüttern hin- und her-ge- und erzogen.
Seit Erhard, der Vater des Familienoberhauptes verwitwet ist, störte ihn das Alleinsein immer mehr und so war das einmal als Gastzimmer geplante sechste Zimmer längst klammheimlich sein Domizil geworden.
Er war begeistert von der dort vorgefundenen alten Stereoanlage (Dual- Kompakt-System), deren klangliche Schwächen für die Volksmusik-Hitparade und seine Ansprüchen vollauf genügte.
Er hatte nach und nach seine Schallplattensammlung mitgebracht, deren Rauschen Samuel, unser ältester Sohn, als affen-tittengeil empfand und welches er sofort zu digitalisieren begann.
Das Rauschen der alten Vinyl-Platten wurde zum authentischen Hit und wann immer irgendein Typ, einer dieser ziemlich strange aussehenden „Vögel“ wie Opa meinte, die sich dann doch meistens als sehr zerbrechliche Wesen entpuppten, bei Samuel zu Besuch waren, wurde dieses Rauschen demonstriert und stieß auf höchste Anerkennung.
Die Spatzen, zwei eher unförmige Dickwänste, die an einen dieser merkwürdigen Obertonsänger erinnerten oder Margot und Michael oder Gudrun und Jonny, die Zillertaler, oder sonst wie-Taler – die gesamte Hitparade wurde aufgefahren, um dieses einmalige analoge Rauschen zu demonstrieren.
Ein Keller voll Leben
Die Doppelhaushälfte war bis in den letzten Winkel ausgebaut, vom Keller bis unter das Dach war nach und nach alles zu Wohn-, Üb-, Schlaf-, Koch-, Lebensraum umgebaut und erweitert worden.
Von den vier Kellerräumen blieben schließlich zwei übrig: Einer für alles, das noch nicht wegwerfbereit war, oder wo man sich nicht durchringen konnte, dies zu tun.
Ein Ort, an dem die selbstgekochte Marmelade, die Mineralwasser-, Bier-, und Weinkisten stehen, sämtliche Lebensmittel ihren Platz gefunden haben bzw. sie in der Unsystematik dauernd gesucht werden müssen.
Das kunstvoll Angeordnete dieser Ansammlung von Nützlichem und nicht mehr Benötigtem droht immer wieder seine eigene Ordnung zu verlieren, wenn irgendein Mitglied des Haushalts versucht, etwas zu finden, von welchem er oder sie überzeugt war, dass es sich hier befinden müsse.
Der zweite Kellerraum ist eine Mischung aus Waschküche und Werkstatt, ein Ort permanenter Auseinandersetzung zwischen den Hütern der Werkzeugfraktion und denjenigen der täglichen Notwendigkeit des Waschens von Unmengen von Wäsche aller Art.
Staub gegen Feuchtigkeit ist ein nicht lösbarer Gegensatz und ein Pool ununterbrochener Konflikte, wobei die Geräusche hier sich in den letzten Jahren nach und nach zurückgezogen hatten.
Vor Jahren stand hier noch eine richtige „Wäsche-Schleuder“, die als Maschine nur akzeptiert worden war, wenn der Knopfdruck so etwas Ähnliches ausgelöst hatte wie den Klang beim Start einer alten Harley-Davidson.
Hörbare Männlichkeit
Auch die Bohrmaschine musste ihre Absicht und Fähigkeit, Löcher ins Holz bohren zu können durch einen fast ohrenbetäubenden Lärm demonstrieren, sogar der Lötkolben zischte und versuchte, ein Rattern zu erzeugen.
Jede Elektrosäge verlangte schon beim Halten einen ganzen Mann, dessen Gefühl von männlicher Potenz beim Halten des Gerätes diesen spüren ließ, dass er die ganze Welt bewegt.
Das Metall, kalt in der Hand und der Druck auf den Einschaltknopf, löste einen fast martialischen, satten Sound aus, dessen Klang in den tiefen Frequenzen die ganze Männlichkeit auf den Plan rief.
Heute ist der Sound designt, man kann das Gerät kaum spüren, es ist leicht, liegt schmiegsam in der Hand, oft gibt es wie beim Alu-Bohrer eine kleine, fast süß zu nennende Variante, die sich der Größe einer Zigarettenschachtel nähert und wenn man sie einschaltet, spürt man nur noch eine leichte Vibration – man hört so gut wie nichts mehr.
Der Geruch, der früher sogar den Sound tangierte, ist noch da.
Wobei man fairerweise sagen muss, dass er tangierte und dies heute nicht mehr so intensiv tut, da Boris, der jüngere der beiden Jungs jahrelang Modellflieger gebaut hatte und die Kleber entsetzlich stanken.
Auch fand, nachdem die Segelflieger nicht mehr ausreichten und stattdessen Motorflieger auftauchten, das teilweise stundenlange Warm-Laufen-Lassen der Benzinmotoren statt.
Auch das Verschütten des Benzins und neben der Waschmaschine die Lagerung von 50-Liter-Tanks einer Benzinmischung, die, wie die Etikette vermittelte, hochentzündbar war.
All das trug nicht zur Beruhigung der Situation bei.
Motorische Stille
Nachdem die Motoren, die nie perfekt liefen, immer wieder auseinander- und zusammengebaut wurden, um dann ohrenbetäubend niemals gleichmäßig zu laufen und die Modellflugzeuge schließlich nach wochen- und monatelangem Bauen aufgrund der Schwierigkeiten mit den Motoren abstürzten, blieben die auseinander gebauten Reste im Keller liegen.
Dort türmten sich Flugzeuge und Werkzeuge, die begannen ein Stilleben zu führen.
Boris verlor für alle überraschend schlagartig das Interesse und überließ das Chaos denjenigen, die es störte.
Nachdem auch die neue Waschmaschine mit dem danebengehenden Trockner nur noch geräusch-reduziert verkauft werden durfte – die Regierung hatte ein Lärmschutzprogramm aufgelegt – was übrigens zu der Groteske führte, dass der Nachbar zur Rechten beim Rasenmähen inzwischen einen dieser modernen roten Kunststoff-Helme mit integriertem Ohrenschutz und breit-frontigem Klarsichtschutz trägt, während sein Rasenmäher nach wie vor so laut dröhnt wie vor 10 Jahren – ist es fast gespenstisch leise in der Werkstatt geworden.
Will man hören, ob die Waschmaschine tatsächlich ihre vorgesehen Arbeit erfüllt, muss man schon sehr nahe ans sie herangehen.
Dann ahnt man ein leises Vibrieren und hofft, dass die Maschine arbeitet…“
So viel für heute – die Fortsetzung folgt nächste Woche.
Liebe Grüße
Ihr Klaus Fessmann