Bordone

Musikalisch-Visuelles Denken

Liebe Leser, liebe Inskribienten!

Ich liebe mein kleines Arbeitszimmer, die schräge Holzdecke mit den Balken hoch zum Giebel des Hauses, die Hunderte von Büchern, die Dutzende von Leitzordnern in verschiedenen Farben, um sich besser auszukennen, die Hunderte von CDs, die fremden und die eigenen samt den dokumentierten Radio- und Fernsehsendungen; das große alte Architekten-Reißbrett, auf dem nach wie vor alle Grafiken entstehen, die ich seit fast fünfzig Jahren erstelle und die dann später an den wenigen freien Flächen der Wände hängen; die inzwischen fünf Computer von meiner Frau Andrea und mir, die Drucker und Scanner, die alte Musikanlage mit den Aktivboxen, einen uralten DAT-Recorder, ein Kassetten-Deck und CD Player, die Schränke unter den Büchern, gefüllt mit allem, was im eigenen Leben so erstellt wurde – dies ist der Raum, in dem ich morgens so ab halb vier sitze, Dinge erfinde, in den Tag hinein sinniere und Bücher schreibe, die dann auch eines Tages hier stehen.

Wenn Bücher zum Leben erwachen

Wenn ich so herumschaue, werden die Bücher in den Regalen, besonders zunächst die Titel, immer wieder zu Inspirationsquellen: So fällt mir bei „Musik im Abendland“ das ewig zurückliegende Studium bei Hans-Heinrich Eggebrecht in Freiburg ein, bei der „Entdeckung des Chaos“ das Treffen mit Benoit Mandelbrot im Kloster Seeon nach dem KlangSteinkonzert dort, bei den Tagebüchern von Robert Schumann sehe und höre ich die beiden Klavierspieler „Florestan und Eusebius“ beim „Meister Raro“ in der Klavierstunde disputieren – kurz: Es ist, wenn ich so herumschaue, wie wenn diese Bücher lebendig werden würden und alle möglichen Personen oder Gestalten hier ein Stelldichein ergeben, aus den geöffneten Seiten herausschauen, herauspurzeln, lachen, rufen, singen, tönen.

Auf dem Reißbrett liegen die Materialien zu meinen jüngsten Werken: Fotos, Folien, kopierte Texte, zerrissene Everestpapiere. Seit ca. fünfundzwanzig Jahren arbeite ich an, wie soll ich es ausdrücken, dem vielleicht ‚musikalisch-visuellen Denken‘ über und mit der Komödie von Thomas Bernhard „ALTE MEISTER“. Es war das letzte Prosawerk, das er vor seinem Tod 1989 vollendet hatte. Es geht um drei Personen, den immer grantelnden Kunstkritiker „Reger“, den Museumswärter „Irrsigler“, der von Reger als „Burgenländischer Dummkopf“ bezeichnet wird und den Erzähler „Atzbacher“, dem Freund von Reger. Es geht auch um einen Platz, einen Raum, um das Kunsthistorische Museum in Wien und dort um den Bordone-Saal, genauer noch um die Bordone-Saal-Sitzbank und es geht um ein Bild, das Bild des „Weißbärtigen Mannes“ von Tintoretto.


Die Handlung ist kurz erzählt: Der Erzähler Atzbacher beobachtet Reger, wie er auf der Bordone-Saal-Sitzbank im Bordone-Saal im Kunsthistorischen Museum von Wien sitzt und über die Kunst, die Musik, die Welt, die Politik, den Schmutz, den Schwachsinn, den Tod, die Trauer und das Leben nachdenkt, schimpft, diese beleidigt, ehrt, sich darüber beklagt. Der zweite Teil dreht sich dann über das Aufeinandertreffen von Atzbacher und Reger in derselben Manier.


Musikalische Sprache

Ich zitiere eine typische Stelle, beliebig und gerade aufgeschlagen:

„Überhaupt, sagte Reger, sind die Wiener schmutzig, es gibt keine europäischen Großstädter, die schmutziger sind, wie es ja bekannt ist, daß die schmutzigsten europäischen Wohnungen die Wiener Wohnungen sind, die Wiener Wohnungen sind noch viel schmutziger als die Wiener Toiletten. Die Wiener sagen dauernd, auf dem Balkan ist es so schmutzig, überall hören sie das Gerede, aber in Wien ist es noch hundertmal schmutziger als auf dem Balkan, so Reger.“

Für mich ist und war dieses Werk immer herrlich, ich liebe es, es ist das Werk von Thomas Bernhard, das am hochgradigsten musikalisch ist. Es ist deshalb so musikalisch, weil es Arten von Minimaltechniken verwendet, die eigentlich sprachlich un-typisch und musikalisch absolut typisch sind. Jedes Mal wenn er über die Sitzbank schreibt, schreibt er: „die Bordone-Saal-Sitzbank im Bordone-Saal im Kunsthistorischen Museum in Wien“. Es hat etwas wie ein Präludium von Bach aus dem Wohltemperierten Klavier. Zum Beispiel schon das 1., das „C-Dur Präludium von Johann Sebastian Bach, aus dem Wohltemperierten Klavier Band I hat nur eine einzige Figur, die immer zweimal gespielt wird und immer wieder durch eine andere Harmonie gejagt wird. Oder wie das Stück “Music for 18 Musicians“ von Steve Reich oder wie eine „Motette“ von Ockeghem oder wie die Oper „Einstein on the beach“ von Phil Glass oder …


Auf der Suche nach „Bordone“

Ich habe mir dieses Werk ALTE MEISTER von Thomas Bernhard zigmal laut vorgelesen und konnte manchmal nicht weiterlesen, weil ich nur noch gelacht habe. Nach dem zehnten Mal des Lautlesens des Buches ALTE MEISTER von Thomas Bernhard kaufte ich mir eine Fahrtkarte und fuhr nach Wien. Dort angekommen, nahm ich ein Taxi und fuhr ohne Umwege sofort zum Kunsthistorischen Museum in Wien, nahm die Treppen vorbei an der Rezeption und erreichte den Bordone-Saal (Thomas Bernhard würde jetzt immer „im Kunsthistorischen Museum von Wien“ anfügen). Dort setzte ich mich auf die Bordone-Saal-Sitzbank und suchte den Weißbärtigen Mann von Tintoretto – leider vergebens.

Der Wächter Irrsigler war nicht anwesend, aber ein Irrsigler-Stellvertreter wurde nach einiger Zeit sichtbar, den ich unmittelbar nach dem Tintoretto fragte. Er, natürlich keine Ahnung, von was ich sprach – ich, dafür gut vorbereitet, hatte ein Bild des Bildes dabei, zeigte es und bat den Irrsigler-Stellvertreter, sich bei der Direktion zu erkundigen, wo der Tintoretto verblieben ist. Nach halbstündigem Warten erschien der Irrsigler-Stellvertreter wieder und berichtete, dass der Tintoretto im Depot wäre und bislang keine Absicht bestehe, ihn von dort wieder zurückzuholen. Empört verließ ich, laut schimpfend, den Bordone-Saal im Kunsthistorischen Museum von Wien, anschließend das Museum, nahm ein Taxi, fuhr zum Hauptbahnhof von Wien, bestieg den Zug und fuhr nach Hause.

So viel zu und über Thomas Bernhard, in den ich mich fast wieder verlaufen hätte, so viel muss jetzt einfach reichen. Sie, verehrte Leser und Leserinnen merken aber, dass dies sprachlich meine Welt ist und ich empfehle Ihnen, das Werk zu lesen, es ist herrlich.


Eine musikalische Explosion

Ich bin in meinem visuellen-tönenden Denken nun wie gesagt seit ca. 25 Jahren mit einem Zyklus über dieses Werk beschäftigt, der dann die Grundlage sein wird für eine Aufführung, vielleicht ein Schauspiel, vielleicht eine Oper, vielleicht eine Performance, auf keinen Fall etwas Religiöses, mal sehen. Auf jeden Fall habe ich die mir vorgenommene erste Hälfte von 250 Werken fast schon hinter mir, in letzter Zeit deutet sich eine Art Explosion an, die Form scheint sich zu dehnen, je näher der Leonardo da Vinci rückt, der W.A. Mozart, der Jackson Polock, die Clara Wieck, der Giovanni Segantini, der Jacopo Tintoretto ist schon lange permanent vorhanden, der Rainer Maria Rilke vielleicht, auf jeden Fall der Franz Schubert; umso mehr sprengt sich der Rahmen, wird alles wilder und heftiger. 500 Bilder werden es werden und ich will fertig werden, auf jeden Fall so lange ich noch denken kann.

Das Reich des Geisteslebens

Also wie gesagt, neben Eusebius und Florestan, dem Meister Raro, dem Quadrivium und Trivium steht, kurz vor dem Eggebrecht der Friedell, eines der wichtigen außerordentlichen Werke, mit 1.570 Seiten auch eines der umfangreichsten, die „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Kaum die ersten Seiten geöffnet, purzelten schon wieder Ideen, Thesen, Persönlichkeiten, manchmal würdevoll, manchmal arrogant aus dem Regal. Und Gedanken, Klarheiten, keine Hypothesen und erst recht keine künstlichen Intelligenzen, sondern – Zitat:

„Im Reich des Geisteslebens, dem wir uns nun zuwenden, nimmt die unterste Stufe die Wissenschaft ein, zu der auch alle Entdeckung und Erfindung sowie die Technik gehört, die nichts ist als auf praktische Zwecke angewendete Wissenschaft. In den Wissenschaften stellt jede Zeit sozusagen ihr Inventar auf, eine Bilanz alles dessen, wozu sie durch Nachdenken und Erfahrung gelangt ist. Über ihnen erhebt sich das Reich der Kunst. Wollte man unter den Künsten ebenfalls eine Rangordnung aufstellen, obgleich dies ziemlich widersinnig ist, so könnte man sie nach dem Grade ihrer Abhängigkeit vom Material anordnen, wodurch sich die Reihenfolge: Architektur, Skulptur, Malerei, Poesie, Musik ergeben würde. Doch ist dies eher eine schulmeisterhafte Spielerei. Nur so viel wird sich mit einiger Berechtigung sagen lassen, daß die Musik in der Tat den obersten Rang unter den Künsten einnimmt: als die tiefste und umfassendste, selbstständigste und ergreifendste, und daß unter den Dichtungsgattungen das Drama die höchste Kulturleistung darstellt, als eine zweite Weltschöpfung: Die Gestaltung eines in sich abgerundeten, vom Dichter losgelösten und zugleich zu lebendiger Anschauung vergegenwärtigten Mikrokosmos.“

Was für eine Würdigung in Zeiten des Virus, denke ich. Nachdem die Virologen den Politikern, den Philosophen, den Priestern, den Neurologen und den Psychologen und wem auch sonst das Zepter aus der Hand genommen haben, für das sie dann auch noch, wie tragisch, das Bundesverdienstkreuz und andere Auszeichnungen erhalten, rückt der Egon Friedell das alles wieder dorthin, wo es auch hingehört: nämlich auf die unterste Stufe des Reiches des Geisteslebens.


Die Verbindung von Kunst und Geist

Über Geist redet heute niemand, über Kunst auch nicht, klar, aber das ist schon lange so und ich habe in meinem Leben mehr daran gearbeitet, das zu ändern als sonst jemand. Ich erinnere mich an das letzte Konzert von Friedrich Gulda 1997, der in dieser Zeit nicht mehr nackt wie mit Paul und Limpe Fuchs, sondern locker gekleidet auf die Bühne des Salzburger Festspielhauses kam, sich dort auf den Klavierhocker setzte und meinte, nachdem die Plakate einen Bach-Abend angekündigt hatten, dass er ‚koi richtige Lust auf Boach hätte, sondern gerne improvisieren täte.‘ Das Publikum, halb Jazzfreaks, halb Klassiker murrte, worauf der Friedrich Gulda meinte, dass derjenige, dem dies nicht passe, gerne rausgehen könne und sich an der Kasse das Geld auszahlen lassen kann.

Circa die Hälfte des Publikums stand dann auf, verließ den Saal, wobei der Letzte noch einen draufsetzte und die Tür laut zuschlug. Danach war es ruhig im Saal, Gulda genoss dies und nach einiger Zeit schaute er auf, drehte sich zum Flügel und sagte: „Jetzt san die Deppn draussen, jetzt kömma Boach schbüln.“ Und spielte ca. drei Stunden die herrliche Musik des Johann Sebastian Bach ohne die ‚Deppen‘, die erstens etwas versäumt hatten, zweitens auch wahrscheinlich gar nicht begriffen, was da passierte.


Leben heißt Veränderung

Und ich liebe den Egon Friedell für diese wunderbaren Sätze:

„… daß die Musik in der Tat den obersten Rang unter den Künsten einnimmt: als die tiefste und umfassendste, selbstständigste und ergreifendste … Kulturleistung.“

Und da kann es noch so viel Digitalisierung und künstliche Intelligenz geben – wenn diese ‚Deppen‘ draußen sind, dann kann man wieder Bach spielen. Denn mancher begreift’s nie.

Und das ist mir überraschenderweise auch inzwischen gleichgültig. Ich habe aufgehört Talkshows anzuschauen, die Nachrichten zu lesen (überfliegen reicht auch). Klavierspielen ist wichtiger, auch mich mit den Steinen zu beschäftigen ist bedeutender. Und der abschließende Satz gehört immer noch zum Schönsten, was ich kenne:

„Leben heisst Veränderung sagte der Stein zur Blume und flog davon.“

… und wenn mein leider viel zu früh verstorbener Dichterfreund Werner Dürrson schreibt: „Das Dach ist dicht, warum noch d/Dichter?“ – muss man sich entscheiden …

 

Alles Gute und bleibt’s g’sund.

Der KF