Klänge, die das Leben bestimmen II

Liebe Leserschaft,

wie versprochen führe ich heute meine Erzählung über das System des Dienstags, den 21. Aprils fort, berichte von Klängen, die das Leben bestimmen.

Im heutigen Beitrag möchte ich Ihnen von orchestralen Stimmfarben und besonderen Frequenzen erzählen:

2 Uhr 23 Minuten
Mond

Motto:
Erstaunlich und gleichzeitig erfreulich ist die Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit mit welcher die infradianen Rhythmen ineinandergreifen.

Auch die Souveränität und Stabilität derselben ist beeindruckend, auch deren Verlässlichkeit, eine Tugend, die heute eher selten geworden ist.

Auch die Sicherheit dieses umfangreichen Räderwerks ist nicht von der Hand zu weisen. Eine durchaus beachtliche tägliche Leistung.

Klänge

2 Uhr 30 Minuten
Mörikestr. 3, Doppelhaushälfte 2. Stock

Johanna Franziska Cosima Clement lag wach.

Seit einigen Monaten geschah dies ziemlich regelmäßig und immer exakt zu dieser Uhrzeit.

„Die Kräfte der Planeten wirken hier ursächlich“, hatte ihr Claudius Beckmann erklärt.

Dieser war ihr (nicht nur) Lehrer der Musikepoche ihrer Schule, den sie eines Tages vertraulich (übrigens nicht zum ersten Mal) nach möglichen Gründen befragt hatte.

Claudius Beckmann wurde wegen seiner Vorliebe für Richard Wagner auch (heimlich) Beckmesser genannt.

Klänge

Mit ihm war sie gestern Abend Essen gewesen, im Il Solino bei Antonio Caldera, einem Nachfahren des berühmten italienischen Komponisten. Dessen Arien schätzte Johanna Franziska (Cosima benützte sie nur in Anwesenheit von Claudius Beckmann) über alles.

Es sollte ein bedeutender Abend werden, die Anzeichen der überbordenden Fürsorglichkeit von Claudius gegenüber ihr ließen sie dies erahnen.

Die Farbe seiner Stimme ging leicht ins tremendo, wenn man sie, so wie Johanna Franziska, gut kannte.

Nach den Alltäglichkeiten, die es auszutauschen galt, begann Claudius, ihr, wie er dachte, sehr einfühlsam zu eröffnen, die Schule am Ende des Schuljahres verlassen zu wollen.

Dies tat er zwischen Salata Mista und Funghi a la caprese, kein Wein (leider, hätte der Stimme gut getan).

Klänge

Das Zentrum des anthroposophischen Seins

Nachdem er seine derzeitige Lage an der Schule – gerade auch hinsichtlich ihrer, noch näher zu bestimmenden Beziehung – bedacht hatte, hatte er vor, noch einmal studieren zu gehen.

Er hoffe, zum vorläufig letzten Male.

Es treibe ihn seit längerem um, die Kenntnisse der Eurhythmie zu vertiefen.

„Doch dies geht“, sagte er, jetzt ganz Anthroposoph, „nur in Dornach, dem Zentrum des anthroposophischen Seins.“

„Ich muss die anthroposophische Luft atmen“, hörte sie ihn sagen.

Klänge

Er war im Grunde schon gar nicht mehr anwesend, seine Stimme tönte von sehr weit weg.

Wenn sie etwas in ihrer Schule, der Freien Waldorfschule gelernt hatte, dachte sie, dann war es diese Fähigkeit des Ignorierens.

Das mit einem immer mehr kultivierten Lächeln begleitete Weghören, Wegsehen gegenüber Dingen, Ereignissen und Vorgängen, die ihre eigene Innerlichkeit in irgendeiner Art und Weise betreffen könnte.

Der Weg zurück ins Astrale, nannte sie diese Übung, die sie immer perfekter beherrschte.

Denn sie verfeinerte diese Übung jeden Tag sowohl in der Schule als auch beim mehrstündigen Cellospielen und sie ermöglichte ihr das
Sein.

Klänge
Claudius war dazu übergegangen, ihr seine Entscheidung zu erläutern.

Teile davon, Fragmente nahm sie wahr, ließ sie zu.

Wie immer sprach er über sich, nur über sich, seine Innerlichkeit, seinen Ätherleib, seine Wesenhaftigkeit.

Die meisten Worte drangen nicht mehr in ihr Inneres vor, sie perlten an ihrem fast überirdisch zu bezeichnenden Lächeln ab.

„Wesen“, hörte sie ihn zitieren, „Wesen reiht sich an Wesen in Raumesweiten.“

„Zuviel“, dachte sie, „einfach zu viel.“

Unerwartete Gäste

Im Moment, als sie sich ernsthaft überlegte, ob sie nicht umgehend die Lokalität verlassen sollte, geschah etwas Unerwartetes.

Unbemerkt von ihr hatten fünf Herren, fast war sie versucht, sie als Herrschaften zu bezeichnen, den Raum betreten.

Erst als sie den Klang einer männlichen Stimme hörte, die einem dieser, wie E. T. H. Hoffmann sagen würde, seltsam gebildet und gekleideten stattlichen Herren gehörte, erwachte sie aus ihrem tranceartigen Zustand.

Sie war kaum mehr in der Lage, sich zu bewegen.

Es war, wie wenn die Sprache, die sie hörte, in ein wunderbares Tönen verhallte.

Schon der Klang schien ihr unbekannte, geheimnisvolle Dinge verständlich auszusprechen.

Ihre Aufmerksamkeit galt dem Vorgang, der sich hier ereignete, und je länger der Auftritt erfolgte, umso mehr war sie von dieser Szenerie in Anspruch genommen, die sich ihr hier eröffnete.

Klänge

Diese ergriff nach und nach auch die Aufmerksamkeit der ganzen Trattoria.

Alles, was sich hier ereignete, war würdevoll, ergreifend faszinierend, würdig zu merken, merk-würdig.

Weder das Aussehen jedes Einzelnen noch das Verhalten, ihre Art zu gehen, zu sprechen, entsprach den gängigen Verhaltensweisen, den ihr bekannten Gewohnheiten.

Sie war, je länger dies andauerte und trotz der immer intensiver werdenden Schwärmereien Claudius Beckmanns, Dornach und die Eurhythmie betreffend, nicht mehr in der Lage, sich diesem Bann zu entziehen.

Antonio, der Wirt, hatte beflissentlich einen Tisch offeriert, die Herren höflich aber bestimmt, die Entscheidung verschoben.

So ergingen sie sich dagegen, immer irgendwo hinhörend in den Räumen der Trattoria.

Hierbei war es im wesentlichen ein Herr, auf dessen Urteil die anderen zu warten schienen.

Eine besondere Stimme

„Nein“, verkündete dieser schließlich, „Nein, hier kann ich weder sein noch essen.“ – „Nein, ausgeschlossen“, erklärte er mit einer Stimme, deren Bestimmtheit im Klang sie an orchestrale Klänge erinnerte.

Diese waren ihr vertraut, sie konnte aber nicht, noch nicht, dachte sie, sagen, was es genau ist, was sie in dieser Weise faszinierte.

„Nein, ausgeschlossen“, hörte sie, die Worte nicht mehr begreifend, nur noch den Farben der Klänge derselben folgend, während die sich immer mehr verflüchtigten und im Raum sich ergingen.

Es fühlte sich an wie ein Sog, der sie ergriff, ihm zu folgen erschien ihr unerlässlich.

Sie rückte den Stuhl langsam nach hinten, stand auf, ließ den erstaunten, aus seiner Dornacher Welt plötzlich sichtlich irritiert erwachten Claudius sitzen und folgte der Spur des Tönens.

Sie ging vorbei am Kopfschüttelnden, auf italienisch fluchenden Antonio und hörte diese Stimme wieder.

Dieses „Nein, ausgeschlossen“, wiederholte sie, repetierte es leise.

Dann öffnete sie die Eingangstür, die Kühle der Jahreszeit drang herein, die Frische kam ihr entgegen, eine angenehme Klarheit breitete sich in ihr aus.

Klänge

Draußen, vor der Tür, im Vorgarten einem bayerischen Biergarten vergleichbar saßen auf, zu dieser Jahreszeit gemeinhin noch nicht benutzten, Stühlen die fünf Herren.

Sie lauschten dem Vortrag über Klang und Raum, der mit dem Satz: „Räume sind tönend bewegte Formen“ gerade begonnen hatte.

2 Uhr 35 Minuten

Motto:
Dies alles funktioniert ohne direkte Tätigkeit von uns Menschen, was im Zuge von Selbstbestimmung und Existenzialismus geradezu frappant ist.

Auch wenn wir versuchen, dagegen zu arbeiten, wird uns Sisyphos freundlich entgegenlächeln.

Funktionieren wir die Nacht zum Tage um, werden wir unser chronobiologisches System in Unordnung bringen.

Was auf die Dauer die Gesundheit beeinträchtigt.

Sicherheit ist bedeutend. Welche Dramen spielen sich gemeinhin schon beim Wechsel von Sommer- zu Winterzeit und umgekehrt ab.

Klänge

Welch ein Stöhnen geht durch alle Schichten der Bevölkerung beim Verlust, welche wohlige Glückseligkeit beim scheinbaren Beschenktwerden mit 1 Stunde, 60 Minuten, 3600 Sekunden…

Je mehr desto besser und ja nichts hergeben ist die Maxime.

Und im Grunde bleibt alles gleich.

Genommen wurde nichts und bekommen haben wir erst recht nichts.

2 Uhr 42 Minuten,
Mörikestr. 3, Doppelhaushälfte 2. Stock

Boris Clement, zweitjüngster Sohn der Familie und u.a. Fußballfanatiker, saß zu dieser Zeit schweißgebadet in seinem Bett.

Seine Höhle oder cave nannte er es auch, umgebaut und nicht einsehbar, im zweiten Stock seines Elternhauses.

Umgeben war er von mächtigen Boxen.

Früher sprach man von Lautsprechern, heute hieß dies sound-systems, sub-woover – der Begriff ließ schon in der Aussprache die Vibration spüren – Dolby-around-systems in highend frequency-drive

Klänge

Schlafen konnte er nur im Frequenzbereich zwischen 20 und 40 Hz und im Dezibelbereich von 85-100, Bereiche, die in der mitgelieferten Tabelle weit in den gesundheitsgefährdeten rot eingefärbten Bereichen lagen.

Boris saß, was völlig ungewöhnlich war.

Normalerweise hing er oder lümmelte er herum, dieses Mal saß er tatsächlich in seiner Höhlen-Falle.

Die einstmals ansprechende Farbe der Leintücher war längst schwer unter die Räder gekommen und von Brandflecken übersät.

Boris saß immer noch völlig schockiert von den Ereignissen, die ihm sein Unterbewusstsein in den paar Stunden, die ihm in dieser Nacht noch geblieben waren, eingebrockt hatte.

Klänge

Ein klangloser Alptraum

Was für ein Traum!

Kein sound-system mehr, keine mp3s, kein Groove, kein Bass, nichts, gar nichts war zu hören.

Er hatte sich in einem totalitären Staat befunden.

Alles war einheitlich, vorschriftsmäßig einheitlich in ein cremefarbiges hellbraun, der Schuhfarbe des Alten entsprechend, einem stumpfen hellbraun getaucht.

Alles war überzogen mit diesem braun, die Teller, das Besteck, der Tisch, die Stühle, der Teppich, ja sogar das ganze Essen war hellbraun.

Das Wasser hellbraun, die Wiese, der Wald hellbraun, alle Autos, Fahrräder hellbraun, alle Haare, die gesamte Kleidung hellbraun, sogar der Himmel, die Stern, der Mond hellbraun.

Klänge

Sogar die Sonne schien hellbraun, furchtbar, entsetzlich, ekelerregend hellbraun.

Beide Fußballmannschaften waren einheitlich hellbraun, der Rasen, der Ball, der Schiedsrichter alles war hellbraun.

Auch ihr Gesang tönte anders, irgendwie wie hellbraun.

Man sah alle Jungs singen, sie sperrten die Münder auf, aber hören konnte man nichts.

Nichts war mehr zu hören, das hellbraun konnte nicht klingen, keine Töne, keine Stimme.

„Singen verboten“, stand in hellbraun auf der großen, hellbraunen Tafel.

Es war furchtbar, einfach hellbraun.

 

Das waren vorerst meine Ausführungen zur Familie Clement, liebe Leser, einer Familie in deren Leben und Sein alles, das mit Klang zu tun hat, eine bedeutende Rolle spielt.

Herzliche Grüße
Ihr Klaus Fessmann