Visualisierte Klänge

In meinen letzen Beiträgen habe ich ein Thema angesprochen, das für viele Menschen – wie ich weiß, vor allem ehemalige Schüler – ausgesprochen unangenehm ist.

Das Thema „Musik“ und „Noten“ hinterlässt bei vielen Leuten ein sehr schales Gefühl und weckt Erinnerungen an den oft unbeliebten Musikunterricht: Auf fünf waagrechten Linien Tonleiterschreiben, die Notenschlüssel, die Viertel, Halben und Ganzen Noten, die Tonhöhen, die Hieroglyphen.

Oft endete es mit einem harschen Urteil des Musiklehrers wie “Du singst nicht mehr mit, du bist unmusikalisch!“.

Dieser Satz, dieses zigfach ausgesprochene Verdikt, traf immer und hatte jedes Mal fatale Folgen, wie ich nach 45 Jahren Lehre in dieser Disziplin leider belegen kann.

Und dabei ist Musik eine der wunderbarsten Dinge auf dieser Welt.

Aktuell Musiklehrer zu sein, ist meistens ein verdammt harter Job. Das ist die eine Seite der Medaille.

Die andere ist die, dass ich nie begriffen hatte, warum viele meiner KollegInnen die Schüler in eine graphisch völlig uninspirierte Zwangsjacke steckten, zu der niemand, außer die ein Instrument spielenden Mitschüler, eine Beziehung hatte.

Die Noten verschafften Not und schlaflose Nächte, da es zwischen dem Zeichen und dem Klang, zwischen dem schwarz-weißen, völlig langweiligen Zeichen ohne Farbe, ohne Ästhetik aber auch gar nichts an Beziehung zu der wunderbaren Schönheit eines Klarinettenklangs von Feidmann oder eines Klaviertons von Michelangeli gab.

Die Mönche der Gregorianik und der weiteren Jahrhunderte malten, hüllten die Klänge in wunderbare Zeichen und Bilder.

Die Linien hatten Farben und aufwändige Ornamente. Sie schmückten die Buchstaben, in denen man unmittelbar den Klang sehend hören konnte.

So wie die indische Musik das Observing lehrt – erst das Sinnesorgan ohne Ziel zu öffnen, um dann im für den Klang stehenden Zeichen den Klang sehend hören zu lernen – war das Erlernen dieser Kunst schon bald mein Ziel.

Schnell erfuhr ich, dass visuelles Denken erkenntnisfähig ist.

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Musikalische Graphik (Tusche): An Werner Dürrson
Ich lebte schon sehr früh in verschiedenen Welten, meistens nicht in der Realen. Vor einigen Jahren schrieb ich darüber einen Artikel, den Sie hier finden.

Für mich war neben dem fast schon permanenten Musikmachen seit früher Kindheit das Lesen lebensnotwendig. Es nährte meine Fantasie.

Jedes Hören von Klängen, von Musik, von sinnvollen Klangfolgen erzeugt in mir Bilder, es laufen visuelle Geschichten ab, bewegt oder stehend, konkret oder abstrakt. Ich denke, das ist bei jedem Menschen so, wenn er Musik zu sich lässt, wenn er in ihr aufgeht, wenn sie ihn angeht.

Mein Großvater, mit 77 Jahren erblindet, sah im Traum die Bilder farbig vor seinen Augen. Wachte er morgens auf, war alles wieder schwarz.

Hörte er Musik, ließ er sich ganz auf diese Musik ein, sah er auch tagsüber Farben vor seinen erblindeten Augen.

Ich war immer wieder fasziniert von seinen Schilderungen, was er so alles mit der Musik mitsah und versuchte seine Welt nachzufühlen und nachzuleben. Er kannte keine „Noten“, war aber überzeugt, dass dies seine Noten der Musik waren.

Versuchen Sie dies einmal nachzuempfinden, wenn Sie Musik im Konzertsaal live oder zu Hause auf CD hören! Vielleicht kennen Sie das Phänomen ja auch schon lange.

Wichtig ist, dass Hören und Sehen zusammen gehören. Sie sind in unserem Wahrnehmungsprozess der Erkenntnis, des Klingenden, nicht zu trennen.

Lernen musste ich, dass dies zwar in die eine, aber nicht unbedingt in die andere Richtung funktioniert.

Zwar sah ich Bilder, wenn ich Musik hörte. Aber ich hörte nicht wirklich Musik, wenn ich Bilder oder Dinge sah.

Die Inder lehren dies unter dem Namen Listening. Observing und Listening. Probieren Sie es aus!

Es ist nur eine Frage des, wie die Inder dann sagen, Learning und des Practising.

So begann ich eines Tages – als ich die Strenge und Fantasielosigkeit der Schule hinter mir hatte und in meinem Studium zwei wunderbare Lehrer fand, die mir zu den Wegen der Freiheit verhalfen – die „Noten“ zu schreiben, die ich hörte und sah.

Und in einem meiner Aufsätze schrieb ich dann zu meinen „Noten“:

“Meine musikalischen Graphiken befreien den reproduzierenden Künstler – Musiker von den Zwängen einer bis ins Detail festgelegten traditionellen Partitur.”

Diese Freiheit ist bis dato nicht durch Gesetz regelbar.
Und wird es auch so bleiben.

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Musikalische Graphik (Tusche): Satori