Oboe

Das Wesen eines Instruments

Liebe Leserschaft,

im letzten Beitrag habe ich erzählt, wie die verträumte Sarah Lea zu ihrem Instrument fand – der Oboe.

Auch heute soll diese ganz besondere Beziehung zwischen dem Mädchen und ihrer Oboe wieder Thema sein. Außerdem möchte ich über die schwierige Kunst berichten, ein Instrument zu bauen und mit allen Sinnen klingen zu lassen:

„Eines Tages hörte der anwesende Teil der Familie aus dem 1. Stock des Zweifamilienhauses, rechts neben der Treppe ein leises Tönen.

Es schwoll nach und nach an, wurde lauter und wieder leiser, veränderte die Tonhöhen, gestaltete Farben.

Oboe

Es war ein wunderbares Klingen eines Instruments, welches bisher im Hause nicht vorhanden gewesen war.

Völlig fasziniert und gleichzeitig wieder verunsichert, irritiert, schauten sich die Anwesenden an. Sie konnten sich diesem Zauber nicht wirklich entziehen.

„Wer spielt hier…?“, fragte Johanna Franziska Cosima leise und vorsichtig in die Runde, ohne das Wort auszusprechen, welches alle für unfassbar hielten.

Sogar Samuel/D2 hatte, erstaunt über das, was er sah, die Stöpsel aus den Ohren genommen und hörte ungläubig nach oben.

Als wenn es verabredet worden wäre, standen alle langsam und vorsichtig auf.

Sie bewegten sich fast in Zeitlupe, ohne ein Geräusch zu verursachen, in den ersten Stock, während die Musik immer weiter tönte.

Vor dem Zimmer angekommen, bewegte Julia Andrea die Klinke mit der höchsten Vorsicht und Sensibilität nach unten.

Sie öffnete vorsichtig und geräuschlos die Tür.

Oboe

Das, was sie gehört hatten, sahen sie nun leibhaftig vor sich, Sarah Lea mit dem Rücken zu ihnen stehend, spielte Oboe.

Niemand wagte, zu atmen.

Die geliehene Oboe

Erst in einer kleineren Pause, die Sarah einlegte, räusperte sich Susette Clement, das weibliche Familienoberhaupt, leise, doch vernehmbar.

Sarah Lea drehte sich langsam um und schaute uns, die Oboe triumphierend in der Hand haltend, an.

„Schön, sehr schön,“ flüsterte Johanna Franziska Cosima, „einfach traumhaft schön.“

Sie hatte damit in bewundernswerter Weise die Situation gerettet und zunächst einmal dem Gefühl Ausdruck verliehen, das alle hatten.
Allerdings konnte es jeder nur sehr unterschiedlich für sich akzeptieren.

„Aber,“ begann Susette Clement, die allgemeine Neugierde in Worte fassend, „wo bringst du eine Oboe her?“

„Ausgeliehen,“ erwiderte Sarah Lea kurz und bündig.

Sie war, wie sich herausstellen sollte, in den letzten Wochen täglich in das bedeutendste Musikgeschäft der Stadt gegangen und hatte es dort fertig gebracht, Oboen ausprobieren zu dürfen.

Sie war zu einer Art Stammgast geworden und hatte es mit ihrer unwiderstehlichen Art (andere würden diese als Sturheit bezeichnen) geschafft, das Vertrauen des dortigen Holzblasinstrumenten-Verkäufers zu gewinnen.

Sie hatte immer wieder geschickt erwähnt, dass beim nächsten Mal ihre Eltern, die gerade auf Geschäftsreise wären, mitkämen, um die Oboe zu erstehen.

Schließlich war es ihr gelungen, ohne weitere Sicherheit ein Instrument auszuleihen.

Oboe

„Und wie hast Du spielen gelernt?,“ fragte vorsichtig Samuel, der genau wusste, wie seine Schwester auf Fragen dieser Art reagierte.

„Du musst einfach zuhören,“ meinte sie, „Das reicht – fast.“

Das „fast“ hörte man kaum, es war schon ein unglaubliches Zugeständnis, dies überhaupt zu erwähnen.

Hartnäckigkeit zahlt sich aus

„Und – wer soll nun diese Oboe bezahlen?,“ fragte Susette, die aktuelle finanzielle Situation der Familie kurz überschlagend. Sie sah überhaupt keine Chance, dies zu realisieren.

Bevor sie über zusätzliche Nachtschichten, Wochenenddienste nachdenken konnte, ertönte von hinten bestimmt und klar: „Ich – fast.“

„Wow,“ entfuhr es Samuel, der Erhards Spontaneität in dieser Form bisher eher nicht erlebt hatte.

Ungewöhnlich war auch, dass Erhard eine Oboe akzeptierte und – finanzierte, eine Trompete, eine Posaune wäre wohl eher das Instrument gewesen, das er zu hören bevorzugt hätte.

Offensichtlich waren hier andere Gründe maßgebend, nach denen aber klugerweise niemand fragte.

So lange Probleme, besonders finanzieller Art, sich so zügig lösten, war es nicht nötig, dies ausgiebig zu erörtern.

Zwar meinte Johanna Franziska Cosima etwas bissig, dass sie sich wohl das falsche Instrument ausgesucht hätte, aber wirklich interessierte dies niemanden.

So blieb die Oboe da, sie wurde nicht mehr zurückgebracht. Erhard ging, was selten vorkam, in die Stadt. Er beglich die Schulden seiner Enkelin, die ihn, was noch seltener vorkam und geradezu ungewöhnlich war, auch noch begleitete.

Oboe

Der Verkäufer war ein Instrumentenbauer aus einer alten Dynastie. Dieser hatte aufgrund der problematischen Situation im Instrumentenbau keine eigene Werkstatt mehr, sondern hatte sich mit einer Verkaufsfirma zusammengetan, bzw. musste dies tun.

Er erläuterte Sarah Lea nochmals ausführlich die genaue Pflege des Instruments und versuchte sie, in die hohe Kunst des Einspielens eines so wertvollen Instruments einzuführen.

Eins sein mit dem Instrument

Erstaunlich für Erhard war, dass Sarah Lea aufmerksam, konzentriert und höflich-freundlich all das akzeptierte und aufnahm, was Herr W. Niedlich, der Herr und Leiter der Abteilung, ausführte.

„Jedes Instrument und die Oboe im Besonderen, verlangt eine intensive Pflege, sonst hört sie auf zu tönen, sie verschließt sich.

Sie ist so etwas wie der Augapfel des sehenden Menschen, so etwas wie der Kehlkopf des Sängers.

Sie muss so sein wie Dein verlängerter Arm und der ausgestreckte Atem all dessen, was sich in Dir als Musik angesammelt hat.

Sie darf nie in der Sonne liegen, das Holz darf niemals heiß werden, genauso wenig, wie es kalt werden darf.

Es muss immer die Temperatur haben, die Deine Hand hat, Deine Hand und die Oboe müssen miteinander verschmelzen, müssen immer eins sein.

Deine Hände spüren den Klang, den Klang der Oboe und Deinen Klang, den Klang, den Du gerne hören und mit der Oboe zusammen spielen möchtest.

Deine Hände dürfen nicht rau sein, nicht cremig, nicht schmutzig, nicht nass. Sie müssen so sein, wie Gott sie geschaffen hat und Du als Mensch sie am liebsten hast.

Oboe

Es muss alles ganz natürlich sein.

Wenn Du anfängst zu spielen, dann denke daran, dass die Oboe geschlafen hat und Du sie langsam aufweckst.

Das Erwachen der Oboe

Lass sie langsam und ganz vorsichtig ins Leben kommen.

Lass sie ganz leise die Augen öffnen, die Ohren, den Mund.

Lass sie ihre Haut fühlen.

Lass sie ihre Haare schütteln, ihre Arme und ihre Beine strecken.

Bring sie in die Welt, in einen wunderschönen Morgen.

Lass die Sonne aufgehen, lass den Nebel steigen.

Spüre Dich zusammen mit Deiner Oboe in die Melodie des Tages ein.

Denk Dir eine Melodie für den Montag, den Dienstag, den Mittwoch, für alle Tage der Woche.

Jeder tönt anders, jeder hat eine andere Bedeutung im Leben.

Du wirst es hören, Du musst einfach zuhören, was um Dich herum tönt und wie das klingt. Wenn Deine Ohren aufgewacht und offen sind, wirst Du alles hören, was Du hören willst.

Dann stimme Dich ein in dieses Tönen, in dieses Klingen, werde eins mit ihm, finde Deinen Ton im großen Orchester des Klingens.

Finde Deine Melodie, Deinen Rhythmus, Deine Harmonie und finde Dich ein in die Symphonie aller Wesen zwischen Himmel und Erde.“

Oboe

W. Niedlich war ein anderer geworden. Der kleine, fast weißhaarige bleiche Verkäufer mit dem grauen Arbeitsmantel hatte sich aus seinem Verkäuferdasein herausgeschält.

Schale für Schale, Hautschicht für Hautschicht hatte er alles pekuniäre, verkaufsorientierte Sein abgelegt.

Er hatte wieder zurückgefunden in die alte Werkstatt, die er mit seinem Vater und Großvater geführt hatte und die sein Sohn weiterführen hätte sollen.

Die Mehrgenerationenwerkstatt

Er hatte wieder das Holz gerochen, welches über Jahre bei gleicher Temperatur, gleicher Feuchtigkeit, ohne Sonneneinstrahlung, aber bei gleichem Licht trocknete.

Das langsam die Fasern ausrichtete, die Zellen öffnete und in eine Resonanz hinein sich entwickelte. Sie bereitete dieses wunderbare Tönen vor, welches eines Tages den Raum erfüllen wird.

Die kleinen, lichten Räume dieser Werkstatt hatten schon im handwerklichen Arbeiten einen Grad von Resonanz erreicht, der nur bei alten, romanischen und gotischen Kirchen möglich war.

Man trifft ihn heute kaum mehr irgendwo an.

Oboe

Alles hier war Resonanz.

Alle Sinne trugen dazu bei, alle Leime, Kleber, Lacke waren speziell dafür entwickelt worden, die Sinne nicht zu blockieren, sondern zu ergänzen, um die Dinge zusammenzufügen.

Die Atmosphäre der Werkstatt war sehr speziell.

Ein Platz tätiger Zurückgezogenheit in wacher, offener, die Sinne gespannter Versunkenheit im Klang, im Ertönen, im Entstehenlassen, Entwickeln von Schwingungen.

Sie sind angelegt in der Materie.

Sie gilt es zu finden, nachdem sie sich dorthin aus dem Kampf der Götter zurückgezogen hatten, wie die indische Mythologie dies schildert.

Der Älteste der Familie war immer für das Holz zuständig.

Er nahm es in die Hand, fühlte, spürte es, ertastete die Schwingungen, mögliche Vibrationen, hörte fühlend die Klänge.

Er ging ihren Wegen nach, erahnte die Umwege, Irrwege, Schlingen, Sackgassen, die Höhlen, die Öffnungen, die Weite, das Versteckte.

Die darauffolgende Generation ließ den Corpus entstehen, öffnete das Holz, ohne es zu verletzen.

Sie ging der Struktur nach, die den Klang birgt, der hin und her schwingt und sich in ihm ausbreitet.

Auch die Bohrung der Schalllöcher gehört hierzu.

Der exakte Platz, die genaue Stelle, dort, wo die Struktur nicht gestört, der Längsklang nicht unterbrochen wird.

Oboe

Die nächste Generation war für die Verbindung mit den anderen Materialien zuständig, den Metallen, dem Bambus, den Rohrblättern.

Die Verbindung, die Brücke, ist einer der heikelsten Bereiche, die Verknüpfung verschiedener Materialien im Klang ist das Empfindlichste.

Diese Generation hatte dies vorbereitet, die Klappen, das Rohr entweder selbst gebaut oder aus bestellten modifiziert.

Sie hatte es umgebaut nach eigenen Prinzipien und über Jahrzehnte entwickelte Kriterien. Immer wieder ertastete der Älteste die Entwicklung des Holzes, beklopfte es leicht mit den Fingerspitzen.

Er blies in die obere Öffnung, um den Luftstrom zu hören, zu spüren, wie er sich drehte und wand, die Flächen entlangstrich, die untere Öffnung verließ.

Die Verbindung aller Sinne

Dies erforderte eine lebenslange Erfahrung, ein Hören der kleinsten Nuancen, der geringsten Veränderungen, der sensibelsten Reaktionen.

Keine Maschine, kein Computer, kein Gerät kann dies alles regeln. Kein Programm, mit welcher Speichermenge auch immer, dies leisten.

Die nur dem Menschen vorbehaltene, hochkomplexe Verbindung aller Sinne in differenziertester Verbindung ermöglicht dieses Arbeiten am Klang.

Und verlangt ein lebenslanges Lernen des Hörens.

Sarah Lea war verzaubert, träumte sich in diese Welt hinein.

Sie hing an den Lippen Herrn Niedlichs und sog alle seine Worte wie Nektar in sich ein.

Oboe

Erhard, der Schwierigkeiten hatte zu folgen, begriff, dass bei seiner Enkelin ein Bereich angelegt war, den sie unmittelbar verstand.

Dies faszinierte ihn, machte ihn stolz und glücklich. Es kam selten vor, dass er so gerne und unmittelbar bereit war, diesen nicht unbeträchtlichen Betrag zu „investieren“, wie er sagte.“

Das war es vorerst mit meinen Ausführungen zur Familie Clement, liebe Leser.

Herzliche Grüße
Ihr Klaus Fessmann