Das Ohrenlicht

Musik spielt in der Weihnachtszeit eine ziemlich große Rolle. Selten sind die Kirchen so voll wie an diesen Feiertagen, an denen die meisten Menschen auf die Berührung der eigenen Innerlichkeit hoffen.

Dieses Weihnachten haben wir viermal das Weihnachtsoratorium aufgeführt, verjazzt von Stefan König und dirigiert von meiner Frau Andrea. Jedes Mal war es ein riesiger Erfolg mit Standing Ovations und minutenlangem Beifall.

Wir haben mit unserer Musik das Publikum erreicht, es berührt, es aus dem Alltag heraus in eine andere Welt, die der Emotionen, und so zu ganz anderen Erfahrungen geführt.

Und wieder kamen nach dem Konzert Zuhörer auf uns zu, mit bewegten Gesichtern und tief empfundenen Reaktionen auf unser Spiel mit den Melodien, Harmonien, Rhythmen und Klangfarben.

“Was für eine unglaublich schöne Welt”, denke ich dabei immer. Dort, wo ich die Möglichkeit habe, mit Menschen, dem Publikum, mit den Mitmusikern in eine Welt einzutreten und einen Abend zu verbringen, der alle anders hinterlässt.

Ohrenlicht

Wie lange so ein Zustand anhält? “Am besten sehr lange”, denke ich, “so lange wie möglich, am besten das ganze weitere Leben lang.”

In Indien lernte ich während meines Studiums der indischen Musik viel über das Verhältnis von Musiker und Zuhörer kennen. Da die Musik und die Musiker dort einen gottähnlichen „Stellenwert“ haben, also durch ihr Tun „wertvoll“, voll mit Werten sind, die sie weitergeben, gibt es richtige Unterweisungen über die Beziehungen zwischen den Künstlern und den Zuhörern.

Ich fand vor kurzem eine handschriftliche Aufzeichnung zu diesem Thema wieder. Obgleich leider keine Quelle dabei stand, möchte ich sie hier zitieren:

„Die höchste ästhetische Freude wird erreicht, wenn der Künstler und die Zuhörerschaft harmonische Wechselbeziehungen erleben. Es folgt eine Aufzählung der unbedingt notwendigen Verhaltensregeln, um ein guter Zuhörer zu werden.

1.
Löse dich mit deinen Gedanken zeitweise von der üblichen Art des Denkens und konzentriere dich auf die höheren geistigen Aspekte des Lebens. Musik liefert die beste Art zu solcher Konzentration.

2.
Stelle das Universelle in den Vordergrund deiner Betrachtungen und versuche, die Gewohnheit, Teilaspekte zu betrachten, abzulegen oder zu vergessen.

3.
Versenke dich in eine Stimmung der Meditation und Kontemplation. Hierzu eignet sich am besten der Âlâp eines Ragas. Der Âlâp ist die ruhige, meditative Ausführung der musikalischen Idee.

4.
Stelle eine Verbindung her zu den übernatürlichen Aspekten der Wirklichkeit. Dies lässt sich sowohl durch die Töne des Ragas als auch durch seine Rhythmen erreichen.

5.
Lass alle innere Voreingenommenheit beiseite.

6.
Versuche, dich in den Künstler einzufühlen. Das heißt, versuche mit ihm zu fühlen und eins zu werden, mit dem Künstler und dem Thema.

7.
Sei still und vergeistigt – innerlich und äußerlich.“

Dies selbst einmal zu üben, bevor man in die Chorprobe, ins Konzert, in einen Gottesdienst geht, ist sinnvoll, auch für Europäer. Es brachte mich von Anfang an in einen Zustand, den ich mir täglich vorstelle und den ich für lebenswürdig erachte.

Im Grunde meines Herzens und meines Denkens wünsche ich mir täglich, dass diese Art von Tätigkeit, dieses Verhalten sich auf alles auswirken wird, das wir Menschen tun.

Damit dies geschieht, dafür lebe ich als Musiker und Mensch. Weil es sinnvoll ist, nach diesen ethischen Prinzipien zu sein. Weil es Krieg vermeidet, Missgunst, Eifersucht und Gewalt. Davon bin ich überzeugt.

In diesem Denken habe ich inzwischen das erste Hand-Buch des KlangStein-Spielens geschrieben. Ich nannte es Ohrenlicht.

Ohrenlicht

Ohrenlicht meint in der chinesischen Philosophie, dass sich beim Hören des KlangSteins im Ohr ein Licht entzündet, welches so etwas wie das Licht der Erkenntnis, das Licht der allumfassenden Wahrheit ist.

Aus Tai I Gin Hua Dsung Dschi, “Das Geheimnis der Goldenen Blüte”: 

„Es gibt ein Augenlicht und ein Ohrenlicht. Das Augenlicht ist das vereinigte Licht der Sonne und des Mondes draußen. Das Ohrenlicht ist der vereinigte Same der Sonne und des Mondes drinnen. Der Same ist also das Licht in kristallisierter Form. Beides hat denselben Ursprung und unterscheidet sich nur durch den Namen. Darum ist Verständnis (Ohr) und Klarheit (Auge) gemeinsam ein und dasselbe wirkende Licht.“

Ich schrieb ein sicherlich sehr eigenes Buch, ein Buch über das imaginative Erinnern, ein Buch über die Haptik, über die Grundlagen des KlangStein-Spielens, über die Gestalten der Klänge. Ein Buch mit mehreren hundert Fotos, das KlangStein-Spielen, die Welt der Klänge und der Musik betreffend.

Mein Graphiker und Freund Klaus Fleckenstein hat die ganzen Ideen und Vorstellungen in einer perfekten Form umgesetzt. An dieser Stelle möchte ich dir herzlich dafür danken, Klaus!

Jetzt gilt es, dies alles auf den Weg zu bringen, die Veröffentlichung zu organisieren und zu feiern, den Menschen von diesen Dingen zu erzählen und alles gut zu verbreiten.

Das Ohrenlicht I tönt, wenn man es aufschlägt und in der Hand hält. Ich spüre die Klänge in meinen Händen und fühle wie sie meinen Körper und Geist durchströmen. Möge dies bei jedem Leser und Hörer gelingen!