Musik entsteht im Kopf

Ich wurde im Bewusstsein erzogen, dass man durch das Spielen und Hören klassischer Musik ein besserer Mensch wird.

Bis heute habe ich diesen Glauben – obwohl ich auch sehr gegensätzliche Erfahrungen gemacht habe – nicht wirklich verloren.

Korrepetiere ich bei einer Chorprobe meiner Frau Andrea eine Mozartmesse, höre ich die Stimmen, spiele ich die Harmonien, Rhythmen und Melodien.

So geht es mir eindeutig besser, so bin ich wacher, lebendiger. Ich vergesse den möglichen Ärger, denke nicht darüber nach, was am nächsten Tag zu sein hat.

Ich bin im Hier und Jetzt, liebe das Leben, die mich umgebenden Menschen und wünsche mir, dass dies immer so bleiben möge.

Warum, frage ich mich, geschieht dies?
Was macht die Musik mit mir?
Wie kommt es, dass sie mich so verändert?

Als Künstler kann ich dies emphatisch beantworten. Vom neurologischen, vom psychologischen, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus hingegen nicht allzu gut. Dazu fehlt mir die fundierte Bildung in diesen Bereichen.

Altenmüller
Musikalische Grafik von Klaus Fessmann aus dem Text von Eduard Mörike und der Musik von Hugo Wolf. Gesang Weylas I: Du bist Orplid, mein Land!

Vor 20 Jahren begann ich meine Lehrtätigkeit in Salzburg und lernte in einem Vortrag Prof. Dr. Eckart Altenmüller kennen. Er ist klassischer Querflötist und Mediziner, führend tätig in allen Bereichen, die auf diesem Gebiet mit Musik zu tun haben. Er ist Spezialist für Musikerkrankheiten und für mich die bedeutendste Kapazität auf dem Gebiet, welches sich mit den Wirkungen von Musik auf den gesamten Menschen beschäftigt.

Er lehrt an der Musikhochschule Hannover und ich verfolge von Beginn an seine Publikationen, die mir in hoch kompetenter Weise Antworten auf meine Fragen geben.

Vor einiger Zeit sandte er mir fünf Artikel zu mit der Erlaubnis, sie in meinem Klangstein-Therapie-Buch in Teilen zu veröffentlichen.

Ich werde heute Abschnitte davon zitieren und sie als Anlass nehmen, um über die Bedeutung von Musik, ihre Wirkung und ihre Unverzichtbarkeit für das Leben zu sprechen.

Ich unternehme dies auch, um der landläufigen Meinung, Musik habe nur mit den Emotionen der Menschen und ihrer Entspannung vom stressigen Alltag zu tun, zu widersprechen.

Altenmüller

Musikalische Grafik von Klaus Fessmann aus dem Text von Eduard Mörike und der Musik von Hugo Wolf. Gesang Weylas II: Das ferne leuchtet;

Dr. Altenmüllers Vortrag “Musik hören – Musik entsteht im Kopf” beginnt mit Grundsätzlichem. Damit, welche besonderen Dimensionen unseres Bewusstseins und Empfindens die Musik in uns, in unserer Wahrnehmung anspricht:

„Wir fühlen uns bewegt vom Nacheinander und Miteinander der einzelnen Strukturelemente, vom Verzahnen und Verknüpfen der Klänge und Melodien, von der Nuancierung der Klangfarben, vom Neuentdecken und Wiedererkennen der Motive und Themen und von der unendlichen Vielfalt all dieser Erscheinungen.“

Diese Vielfalt nehmen wir auch ohne Studium wahr, wir verstehen sie – ansonsten würden wir nach kurzer Zeit aus jedem Konzertsaal fliehen.

An anderer Stelle schreibt er hierzu:

„Musik hören, Musik verarbeiten und Musizieren – all diese Tätigkeiten sind höchst anspruchsvolle Leistungen des menschlichen Zentralnervensystems. Gehörsinn, Sensomotorik, Sehen, Emotionszentren und Gedächtnis werden gefordert. Allein für die Verarbeitung der beim Hören entstehenden Eindrücke benötigen wir ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen.

Musikalisches Training führt dabei zu charakteristischen Anpassungen des Nervensystems, die als Neuroplastizität bezeichnet werden. Hirnstrukturen, die an der Musikwahrnehmung und am Musizieren beteiligt sind, vergrößern sich. Dies geht mit effektiverer auditiver Mustererkennung, verbesserter Feinmotorik und höheren sprachbezogenen kognitiven Fertigkeiten einher. Wie jeder ästhetische Unterricht fördert Musikerziehung aber auch emotionale, interpersonelle und kreative Kompetenzen, die für die Gestaltung unserer Gesellschaft von großer Bedeutung sind.”

Altenmüller
Musikalische Grafik von Klaus Fessmann aus dem Text von Eduard Mörike und der Musik von Hugo Wolf. Gesang Weylas III: Vom Meere dampfet dein besonnter Strand

Der Anfang dieser Ausführungen „Musik hören, Musik verarbeiten und Musizieren“ benennt die beiden Tätigkeitsbereiche, die des passiven Hörers und die des aktiven Musikers, bei welchen Musik im Menschen unterschiedlich verarbeitet wird.

Die höchste Wirkung erzielt immer das eigene aktive Musizieren, das musikalische Training, das Üben, das Repetieren, aber auch das passive Hören von Musik besitzt eine niemals zu unterschätzende Bedeutung.

Hören wir Musik, spielen wir sie, verklingt sie in beiden Fällen unmittelbar danach, zum Beispiel nachdem wir die Taste am Klavier losgelassen haben, aber sie verbleibt auf andere Weise in uns, wir hören sie nach, wir haben sie „verstanden“ und wir erinnern uns oft ein ganzes Leben an sie.

„Daher ist das Gedächtnis die wichtigste Voraussetzung um Musik zu verstehen. Die einzelnen Klänge werden erst durch das Gedächtnis in unserem Gehirn zu kurzen Melodiebruchstücken zusammengefügt. Daraus baut das Gedächtnis Themen, aus verschiedenen Themen entstehen die Sätze einer Sonate oder einer Symphonie, und aus den Sätzen werden ganze Symphonien. Jede Musik spielt mit dem Gedächtnis.”

Altenmüller
Musikalische Grafik von Klaus Fessmann aus dem Text von Eduard Mörike und der Musik von Hugo Wolf. Gesang Weylas IV: Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet.

Wie diese Gedächtnisbildung genau funktioniert, werden wir beim nächsten Newsletter anhand des einfachen Liedes „Hänschen klein“ zeigen.

Als Vorausschau darauf ein weiteres Zitat von Dr. Altenmüller:

„Unterstützt wird die Bildung des musikalischen Gedächtnisses durch die vielen Wiederholungen der Liedthemen … (so) lässt sich eine der wichtigsten Funktionen des Gedächtnisses zeigen: Ordnungsbildung und Reduktion von Komplexität. Nur durch das Gedächtnis sind wir in der Lage, uns im Chaos der einströmenden Hörerfahrungen zu orientieren … Das Gehirn belohnt die Erfahrung der Ordnungsbildung mit positiven Emotionen, denn das Erkennen von Ähnlichkeiten ist ein Weg zum Verstehen der Welt und eine wichtige Voraussetzung, um sich in ständig veränderten Lebensbedingungen zurechtzufinden.“