Ich würde Ihnen gern etwas über eine ganz bestimmte Person erzählen.
Es handelt sich hierbei um einen begnadeten Melodiker. Einen wunderbaren Melodiker.
Ich hatte ihn bereits vergessen. Hatte ihn auch damals seit den 70er Jahren nach seinem Konzert mit den „Songs of Love and Hate“ nicht mehr ausstehen können.
War, nachdem ich ihn zu Beginn jahrelang über alles geliebt hatte, sogar wirklich all seine Songs selbst gespielt hatte, schlussendlich richtig wütend auf ihn gewesen.
Und jetzt las ich dass er, Leonard Cohen, gestorben ist. Im Alter von 82 Jahren in Kalifornien. Und ich war, was mir selten in solch heftigem Ausmaß passiert, richtig bestürzt und zutiefst traurig.
Ich habe mich gefühlt, als wenn er mir immer ganz nahe gewesen wäre. Ich hätte weinen können über den Verlust eines Musikers, der viel wichtiger war in meinem Leben, als ich es in der Zeit meines Folkmusiker-Daseins annahm.
„I heard there was a secret chord“, sang es in mir.
Dieser Secret Chord. Der geheimnisvolle Akkord, den so viele Musiker schrieben.
Den Schubert hundertfach in seiner „Winterreise“ schrieb. Den mystischen Chord, den der Skryabin im Prometheus schrieb. Den Secret Chord, den bei Leonard Cohen David („David played and it please the Lord“) spielte, um Saul mit der Lobpreisung Gottes von den schrecklichen Gedanken zu befreien. Um die Bedeutung von Musik („But you don ́t really care for music, do you?“) für sein lyrisches Gegenüber gleich wieder in Frage zu stellen.
Jedoch komponiert dann der verdutzte König das Hallelujah in sich: „Well, it goes like this, the fourth, the fifth, the minor fall and major lift“. Erst den Akkord auf der vierten Stufe, dann den Tonleiter auf auf der fünften Stufe. Und schließlich singen alle Hallelujah…
Was für ein wundervoller Text, die Bedeutung und Wirkung von Musik betreffend.
Das Hallelujah sollten wir, meine Frau und ich, vor drei Jahren bei einer Hochzeit in der Kirche spielen. Ich konnte es nicht spielen und wollte es auch nicht spielen.
Aber wie es so ist, saß ich irgendwann am Klavier und spielte das Vorspiel. Und schon wieder ging es los: Diese Tiefe, diese Bewegung, diese Schönheit einer so einfachen Melodie. Seitdem geht mir das Lied, geht mir diese Melodie, nicht mehr aus dem Kopf.
“Dieser Cohen”, dachte ich, “schlich sich damals aus meinem Leben, als ich all seine Songs liebte”. Suzanne takes you down to her place near the river, Like a bird on the wire, Like a drunk in a midnight choir, So long Marianne.
Er verschwand mit Songs, zu denen man gleich eine Rasierklinke dazulegen sollte, wie man damals sagte. Und plötzlich, Dutzende von Jahren später, war mit dem Halleluja wieder alles da.
Dieses Kribbeln in den Händen, im Kopf, im ganzen Körper. Und dann brach es herein: „Love is not a victory march – It´s cold and it´s a broken Hallelujah“. Ein gebrochenes Hallelujah!
Was ist das – diese Melodie?
Dass sie dieses tiefe, unermessliche, sagenumwobene, mystisch Wahrscheinliche und doch so Klare hat? “Was ist eine gute Melodie?”, frage ich mich, als jemand der Töne zum Leben erweckt. Jemand, der Klänge in die Luft der Welt wirft, der das Ohrenlicht anzündet und dem Leonard Cohen zum Klang-Bruder wurde.
Singe ich diese wundersame Melodie so vor mich hin, ob mit oder ohne Text, bleibt diese Klang-Linie der Töne in ihren Wiederholungen haften und geht nicht mehr von mir weg.
Was ist eine gute Melodie?
Wiederholen, denke ich, kann jeder. Etwas nachsingen kann auch jeder. So bleibt bei mir das hängen, was man an den folgenden Notenbeispielen erklären kann:
1. Es muss in einer Melodie immer etwas vorhanden sein, die fast jedem bekannt ist.
Er wiederholt die Melodientöne im schwingenden, punktierten Rhythmus (lang-kurz, lang-kurz) wie der Text gebaut ist. Am Ende geht er einen Ton nach oben.
2. In einer guten Melodie muss alles Schwere vermieden werden.
Im nächsten Teil baut er dies aus und kommt schlussendlich wieder am beruhigenden Anfang an.
3. In einer guten Melodie muss man die große Kunst außen vorlassen oder verstecken.
Weiter geht die Melodie im selben Rhythmus nach oben. Alles leichtfüßig und immer eine Stufe nach der anderen.
4. In einer guten Melodie muss die Folge so einfach sein, dass jeder sie singen kann.
Das Hallelujah ist wieder ganz in der Mitte, in einer leichten Lage angelangt. Einmal nach oben, dann nach unten, dasselbe noch einmal. Beim letzten Mal wird der Vokal gedehnt und kommt zum Grundton zurück, der ihn hält.
5. In einer guten Melodie sollte die Kürze der Länge vorgezogen werden.
Mit den zwei Takten Vorspiel, das den 6er Takt einführt und spüren lässt, ist der ganze Teil gerade einmal 14 Takte lang. Diese erklingen dann noch dreimal mit dem weiteren Text, woraus sich die fünfte Regel ergibt.
Das allerwichtigste hierbei drückt Johann Mattheson, ein Musiker und Wissenschaftler der Barockzeit, folgendermaßen aus:
Wir können keine Vergnügung haben an einem Dinge, daran wir gar keinen Teil nehmen.
“Das ist bei einer Melodie einfach”, denke ich mir. “Denn Melodie kommt aus zwei Wurzeln, dem Melos, dem Lied und der Ode, dem Gesang. Also ist eine Melodie erst einmal etwas Gesungenes. Und dabei belassen wir es dann auch einmal.”
Füge ich alles Gedachte und Gehörte zusammen, dann folge ich der fünften Regel (“Ziehe die Kürze der Länge vor!”) und verabschiede mich mit Leonard Cohen:
I did my best, it wasn`t much
I couldn`t feel, so I tried to touch
I`ve told the truth, I didn ́t com to fool you And even though
It all went wrong
I`ll stand before the Lord of Song
With nothing on my tongue but Hallelujah.