Die Teilbarkeit der Realität

Ein künstlerisch geprägtes Leben ist für mich nach wie vor die beste Form einer möglichen Existenz und ich würde auch rückblickend nichts anderes wählen.

Meine eigene Freiheit des Geistes und des Tönens ist durch nichts zu ersetzen.

Da ich ein Knabe war
Rettet ein Gott mich oft

Vom Geschrei und der Rute der Menschen

Natürlich bin ich den sogenannten Realitäten manchmal ausgesetzt. Habe mich ihnen zu stellen, mich mit ihnen auseinander zu setzen, mich oft über sie zu ärgern.

Aber meine eigentliche, für mich wirkliche Welt, ist dort schwer und eher nicht zu finden.

Da spielt ich sicher und gut
Mit den Blümchen des Hains

Und die Lüftchen des Himmels Spielten mit mir.

“Traumtänzer!” wurde mir im Schwäbischen, wo ich geboren wurde, schon im Kindergarten nachgerufen. Weil ich mich immer tanzend und springend durch diese Welt bewegte.

Weil ich beim schulischen Lerngang nie einen Pilz fand, da im Himmel ja keiner wuchs. Weil ich in Aufsätzen das schrieb, was mir in meinem Kopf so herumging. Das war nicht vergleichbar mit den schwerfälligen Tatsachenberichte der meisten Mitschüler.

Dass ich dafür Ohrfeigen bekam und gezwungen wurde, nur das zu schreiben was real war, war sehr schwäbisch.

Oh all ihr treuen
Freundlichen Götter!
Daß Ihr wüsstet,
Wie euch meine Seele geliebt!

Zwar damals rief ich noch nicht
Euch mit Namen, auch ihr
Nanntet mich nicht, wie die Menschen sich nennen
Als kennten sie sich.

Eine der Welten, die ab meinem 4. Lebensjahr immer sonntags stattfand, war die katholische Messe.

Damals noch die lateinische, wo nur der Klang der Sprache zu hören war, vermengt mit den Weihrauchschwaden und der Orgelmusik. Das Gemisch von tiefen, mittleren und hohen Orgelpfeifen, die sich mit diesen Klangwolken vereinten, den prachtvollen Gewändern der Priester.

Dies alles war jenseits der für mich immer unerträglichen Schule. Hier, in der Kirche, wurden meine Sinne geschult.

Die Musik lehrte mich hier schon früh das Zählen, das Riechen, das Fühlen, das Lesen.

Doch kann ich Euch besser,
Als ich je die Menschen gekannt,
Ich verstand die Stille des Äthers
Der Menschen Worte verstand ich nie.

Mich erzog der Wohllaut
Des säuselnden Hains
Und lieben lernt ́ ich
Unter den Blumen.

Die Schule war nicht wichtig für mich, ich mogelte mich durch, da ich woanders lebte.

Kein Lehrer konnte wirklich begreifen, dass ich Nachmittags stundenlang Klavier spielte, später dazu noch mit meiner Folkband Songs schrieb und Konzerte gab.

Immer Freitags die Musik für unsere alternativen Jugendgottesdienste komponierte, in den Nächten unterwegs war, um die Welt umzubauen und neue Kirchen zu gründen.

Logischerweise fiel ich aus dem Schulsystem, flog in der
12. Klasse durch und bekam diese Form der Realität massiv zu spüren. Nur: Wichtig war das nicht. Das einzig Störende war, dass ich ein Jahr länger in diese Anstalt zu gehen hatte.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.


Friedrich Hölderlin

Wichtig waren ganz andere Dinge. Der Friedrich Hölderlin zum Beispiel, dessen Gedicht (“Da ich ein Knabe war”) ich hier zitierte.

Die Reklambücher mit seinen Gedichten steckten immer in der Hosentasche. Die Wut im Bauch über die Ärzte, die ihn 1806 in Tübingen 231 Tage zwangsbehandelten, um ihn zu “heilen”, rumorte im Bauch.

Er sollte, auf Wunsch seiner Familie, geheilt werden von der Realität und seiner Weigerung sie anzuerkennen. Als er schließlich 1807 zum Zimmer in den Turm kam, der heute nach ihm benannt ist, gab es den Menschen mit dem Namen Hölderlin nicht mehr.

Er unterzeichnete seine Gedichte mit Scardanelli, mit Buonarotti, mit Scaliger Rosa und vier weiteren Namen.

Hatte er, der vor seiner „Behandlung“ innerhalb 3 Wochen von Nürtingen nach Bordeaux lief, um sich zu spüren, seine Identität bewusst gewechselt, wie vermutet wird?

Er löste das Rätsel nie.

Hier kommt für mich die Musik ins Spiel. Hölderlins Gedichte basieren, wie nachgewiesen, auf rhythmisch geordneten Vokalreihen, die immer Tonhöhen (frequenzorientiert) und Klangfarben (spektraltöneorientiert) sind.

Die Konsonanten, so eine weiter erforschte Hypothese, sind nach den sprachlichen und bedeutungstragenden Gesetzmäßigkeiten der Zeit geordnet.


Hölderlin Turm

Hölderlin lebte von 1770, dem Geburtsjahr Beethovens, bis 1843. Es ist in der Musik der Übergang von der Wiener Klassik in die Romantik.

Der Übergang war kein eigentlicher Übergang. Er war durch Beethovens Krise, welche im Heiligenstädter Testament im Jahr 1802 dokumentiert wurde, ein geistiger Trennungsstrich.

Beethovens Entscheidung, nicht mehr für alle Menschen, sondern nur noch für „Kenner und Könner“ zu komponieren, ist ein riesiger Einschnitt in die musikalische Kultur.

Es ist wie ein Keulenschlag für all die Ausgeschlossenen. Und gleichzeitig seine Reaktion auf den politischen und damit kulturellen Kahlschlag in Zeiten des Metternichsystems.

So entstand ein Leben im sogenannten Zwei-Weltenmodell.

Hier die diktatorische Realität, die Verelendung durch die Urbanisierung und Industrialisierung mit all den Nebenwirkungen.

Und dort, auf der anderen Seite, wie W.H. Wackenroder schreibt, das „Land der Musik“, die ein „Land des Glaubens“ ist, eine Welt, die als Erlösung und Fluchtpunkt von der tristen Wirklichkeit existiert.

Musik war im romantischen Verständnis die höchste aller Künste, sie war das Medium der fernen, blauen Schönheit, der Reinheit, von allem Humanen, der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Dort wo man sich in einem „tönenden Meer“ verlieren konnte, dort wo „Alle Angst unseres Herzens durch leise Berührung auf einmal geheilt wird“.


Ludwig van Beethoven

H.H. Eggebrecht, einer meiner wirklichen Lehrer, schrieb:

„Nicht nur blieb …. der Kunstzweifel draußen, sondern auch die Trennungslinie. Der senkrechte Strich zwischen Wirklichkeit auf der einen und Kunstwelt auf der anderen Seite blieb unberührt: Zusammen mit dem Ertönen der Musik wechselte das Subjekt sein Dasein; es zog in die Geisterwelt ein, in der es nichts Wirkliches mehr gab. Musik, auch wenn sie das Böse und Vernichtende, Verdammnis und Untergang in die Programmzettel schrieb, blieb intentional die Gegenwelt. Nach wie vor war sie nicht nur je im Finale, sondern war von vornherein die Umarmung der heilenden Göttin“.

Auf der einen Seite blieb die Hoffnung, durch diese Kunstwelt die Realität zu verbessern.

Auf der anderen Seite bleiben viele Künstler lieber in dieser Kunstwelt und sahen keinerlei Grund mehr in die „Weltmisere“ zurückzukehren.

Oder sie entwickelten eine eigene Kunstwelt. Wie Schumann mit dem Florestan und dem Eusebius. Wie Schubert, der nie zu seinen Uraufführungen ging. Oder wie Hugo Wolf, der auch gemütskrank war und in einer Irrenanstalt starb.

Oder wie John Cage, der schrieb:

„Ich glaube, die Gesellschaft ist für einen Künstler das größte Hindernis, das man sich vorstellen kann. Marcel Duchamp würde sicherlich derselben Meinung sein. Als ich in jüngeren Jahren auf Unterstützung angewiesen war, hat mich die Gesellschaft ignoriert, weil man meiner Arbeit misstraute. Als man sich jedoch, dank meiner Ausdauer, für mich zu interessieren begann, versuchte man mich daran zu hindern, etwas Neues zu machen. Man wollte, dass ich nur das wiederkaue, womit ich vorher Erfolg hatte. Die Gesellschaft versucht immer, den Künstler an dem zu hindern, was eigentlich getan werden sollte.“

Dieser letzte Satz sollte künstlerische Konsequenzen haben, oder?